Kirche Wanfried
Ev. Stadtkirche in Wanfried – Eine Perle neugotischer Kirchenbaukunst
Die Ev. Stadtkirche in Wanfried ist ein besonders qualitätvolles und selten gut erhaltenes Beispiel neugotischer Kirchenbaukunst.
Die Neugotik ist eine Architekturrichtung im Historismus.
Doch was ist eigentlich Historismus?
Im neunzehnten Jahrhundert wurde auf allen Gebieten des Wissens und der Kunst so viel wie nie zuvor experimentiert. Dadurch entstand eine enorme Vielfalt an Konzepten und Formen. Man empfand die Zeit als Aufbruch in eine neue Welt. Das galt insbesondere für Kunst und Architektur der Zeit zwischen 1830 und 1918, die als Historismus bezeichnet wird.
Wir wollen hier die wichtigsten Facetten dieser Architekturrichtung benennen. Durch den Rückgriff auf Bauformen vor Barock und Klassizismus hoffte man, eine neue, zeitgemäße Architektur schaffen zu können. Dabei wurden sehr unterschiedliche Wege beschritten. Für den Profanbau, vor allem im Wohnhaus- und Villenbau, galt überwiegend die Renaissance als der geeignete Ausgangspunkt. Große städtebauliche Ensembles, wie die Wiener und die Kölner Ringstraße und die Villenviertel in Berlin, Dresden und Bonn veranschaulichen dies. Für den Kirchenbau galt die mittelalterliche Architektur der Romanik und vor allem der Gotik als Vorbild. Schrittmacher waren die Vollendung des Kölner Domes ab 1840 und der Bau der Nikolaikirche in Hamburg ab 1846. Die Gotik war seither der Kirchenstil schlechthin. In Norddeutschland und im Rheinland hatte sich mit der Kölner und der Hannoverschen Bauschule die Idee von der Gotik als Universalstil durchgesetzt, das heißt, dass dieser Stil für alle Gattungen der Baukunst die besten Entwicklungsmöglichkeiten bietet.
Der in Wanfried geborene Georg Gottlob Ungewitter, Lehrer an der Bauschule Kassel, war der große Initiator dieser Richtung. Sein Schüler Hermann Rüppel hat mit der Stadtkirche in Wanfried seinem Lehrer ein bedeutendes Denkmal dieser Architekturrichtung errichtet.
In der Zeit, als die Kirche gebaut wurde, galt das sogenannte Eisenacher Regulativ von 1861 als allgemeine Richtschnur für die protestantischen Kirchen. Hauptgesichtspunkte waren der gotische Stil, die dreischiffige Anlage des Innenraums und – nach Möglichkeit – der Verzicht auf Emporen. Über allem stand aber die Neuordnung der Position von Altar und Kanzel. Bis ins 19. Jahrhundert hinein hatte man die protestantischen Kirchen als reinen Versammlungsraum gestaltet, in dem Altar, Kanzel und zuweilen auch die Orgel übereinander angeordnet waren. Nun sollte der Altar alleine in der Mitte in dem dafür bestimmten Chorraum stehen, die Kanzel dagegen an der Seite zwischen Chor und Schiff. All dies sehen wir in der Wanfrieder Kirche in beispielhafter Weise erfüllt. Die Architektur kündet von den religiösen Vorstellungen ihrer Zeit.
Text: Prof. Dr. W. Brönner, Mainz – mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt von W. A. Kalden